Times & Sounds Review auf Musikreviews.de

von Andreas Schiffmann, 24. Oktober 2020
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Den weiten Krautrock-Acker haben schon so einige laienhafte, wenn auch begeisterte Fans mit historisch-dokumentarischen Zielen Schwarz auf Weiß abgegrast, doch unter den Buchautoren, die sich dem Thema widmen, ist JAN REETZE eine wahre Kapazität, die u.a. mit wirtschafts- und musikwissenschaftlichen Werken wie “Musikcomputer – Computermusik” (1987) oder “Gläserne Verbraucher – Markt- und Medienforschung unter der Lupe” durchaus zu Standardwerken taugende Bücher veröffentlichte.

Vor allem ist der 64-Jährige aber ganz offensichtlich – das wird beim Lesen des vorliegenden Wälzers deutlich – selbst mit Begeisterung bei der Sache, wobei sich Expertise und Talent für fesselndes Schreiben in idealer Weise vereinen. Reetze hatte im Vorfeld offensichtlich hohe Ambitionen und diese mit Bravour erfüllt.

Er klappert nicht nur chronologisch anhand eines linearen Zeitstrahls ab, was von Jahr zu Jahr musikalisch veröffentlicht wurde (dafür gibt’s heute im Grunde genommen doch Discogs und Co.), sondern stellt die gesamte Bewegung “Krautrock”, falls man sie als solche und einheitlich bezeichnen kann, in einen weiteren historischen, kulturellen und politischen bzw. gesellschaftlichen Kontext.

Das Tolle daran: “Times & Sounds” wirkt zu keiner Zeit verkopft, so wie man es beispielsweise von den mittlerweile trendigen Universitätsvorlesungen oder Dissertationen zu Themen wie Punk oder Metal kennt, sondern bleibt am wahrlich fiebrigen Puls des betreffenden Themas und spricht somit auch die Sprache derer, die sich der Musik als Hörer oder Schöpfer – Hans-Joachim Roedelius (Cluster, Harmonia) verfasste das Vorwort – verschrieben haben.

beginnt logischerweise mit den Voraussetzungen für “neue” Musik, als nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg faktisch auch in künstlerischer Hinsicht die Stunde Null schlug. Von den (Geistes-)Zuständen in der gespaltenen Republik gelangt er rasch zu den wirtschaftlichen und normativen Prinzipien der Musikbranche des Landes und rekapituliert, wie sich im Zuge der Emulation der Gesten und Klänge nordamerikanischer Jazz-Combos respektive Bigbands, durch Abziehbilder des prototypischen Rock ‘n’ Roll aus Übersee und von den bald folgenden Beat-Stars vorwiegend britischer Herkunft (Beatles, Hamburg und so …) nach und nach etwas irgendwie Eigenes herauskristallisiert.

Die Realität war und ist dabei nicht von simplen Polaritäten gekennzeichnet, also weder Protestsongs im Geist von Bob Dylan oder Joan Baez contra Schlager, Links gegen rechts oder dergleichen; was sich ab ungefähr Ende der 1960er in Jugendzimmern und vor allem WGs. oder. Kommunen musikalisch abspielte, stand sowohl am Ende einer Lösung von den buchstäblich “alten Zöpfen” als auch am Anfang einer Entwicklung, die nicht nur bis heute fortschreitet, sondern die Landesgrenzen längst überschritten hat.

Nicht unerwähnt bleiben vor dem “dicken” Ende – einem Schlussteil mit Anmerkungen, Bibliografie und Index – Ideologie- und Geschlechterkämpfe (Brandherde wie die Münchner Kunstakademie im Schlüsseljahr 1968) einerseits und eine Menge Nerd-Wissen über Studiotechnik (ein Bereich, in dem der Autor ebenfalls vorübergehend tätig war) andererseits, wobei es ein Wiedersehen mit u.a. Conny Plank und Dieter Dierks gibt. Genauso werden Lokalitäten und ihr “typischer” Sound (Düsseldorf, Berlin) unter die Lupe genommen, nicht zu vergessen das Musikfernsehen (Beat-Club, etc.) und allgemein die geografische Infrastruktur als Fundament für und Einfluss auf die Musikverbreitung in der prä-digitalen Ära.

Der Hamburger Wahlamerikaner, der im US-Bundesstaat Pennsylvania lebt, widmet sich freilich den Wegbereitern elektronischer Musik auf der unausgesprochenen Basis sowohl von Richard Wagners pompösen Pathos als auch Karlheinz Stockhausens und Gottfried Michael Koenig sogenanntem Serialismus, der vermeintlichen Avantgarde und Neuen Deutschen Welle gleichermaßen, dem Poppigen und Rockigen, dem Progressiven und Retrospektiven – eben allen Formen von geordneten Tönen in ihren bunten Facetten mitsamt ihren Synergieeffekten im jeweiligen zeitlichen Zusammenhang.

Dass er sein Werk als “journalistisches Tagebuch” konzipiert hat, macht es in seiner episodischen Struktur umso nahbarer, und tatsächlich: der reich bebilderte Band, dessen “Map auf Krautrock” glatt als Poster hätte beiliegen sollen, umfasst 50 Jahre deutsche Musikgeschichte in gebündelter Form und “kommt dem Phänomen Krautrock so nah wie niemand je zuvor” …

FAZIT: Ein in seiner Informationsdichte erschlagendes, schreibstilistisch niveauvolles und die Ziele des Autors umfassend abdeckendes Werk über eine auch über Deutschland hinaus ungeheuer wichtige Periode der jüngeren Musikgeschichte, die man sich gleich neben Julian Copes “Krautrocksampler” ins Regal stellen darf … nach gründlicher Lektüre wohlgemerkt. Der Pokal für das Nischenbuch des Jahres geht an JAN REETZE und den Verlag Halvmall für diesen auch optisch großartig aufgezogenen Titel.